Leseprobe: Kapplers Hut
Prolog: Rückblende Zweiter Weltkrieg
23. und 24. März 1944, Rom
Die Explosion in der Via Rasella traf den Zug der SS-Ordnungspolizei aus Südtirol mit voller Wucht und völlig unvorbereitet. Jeden Tag marschierte diese Einheit in strammem Gleichschritt durch die engen Gassen der italienischen Hauptstadt, demonstrierte dabei mit dem martialischen Gedröhn der genagelten Stiefel in Marschkolonne symbolisch die Unterwerfung Italiens unter das Deutsche Reich Adolf Hitlers.
Etwa ein halbes Jahr zuvor waren über Nacht aus den ehemals verbündeten faschistischen Staaten Deutschland und Italien erbitterte Kriegsgegner geworden, als der Hitlerfreund Benito Mussolini abgesetzt und durch Marschall Badoglio ersetzt worden war, vorher ein treuer Anhänger Mussolinis. Die italienische Regierung schloss mit den in Süditalien gelandeten Alliierten ein Waffenstillstandsabkommen, wodurch Nazideutschland sich in der Position sah, das ganze Italien zu besetzen und unter deutsches Regiment zu stellen. Die italienische Bevölkerung war fortan besonderen Repressalien ausgesetzt, in der Hierarchie des Reiches standen nur die Juden noch unter den Italienern.
Die Chuzpe der SS-Kommandantur, den Zug der Südtiroler SS immer zur gleichen Zeit über immer die gleiche Strecke durch Rom marschieren zu lassen, machte diese wiederkehrende Routine der Deutschen zu einem besonders verhassten Symbol des deutschen Terrors und der Besatzung. Die harten Repressionen der Deutschen führten allerdings auch unmittelbar zu einer Zunahme von Aktionen des Widerstandes, der Resistenza, auf dem Land und in den Bergen sowie in den großen Städten.
So deponierte eine Gruppe von illegal agierenden Widerstandskämpfern, Männer wie Frauen, sogenannte Gapisti, vor einem Haus in der Via Rasella einen tödlichen Sprengsatz in einem Handkarren der Stadtreinigung. Die verheerende Bombe explodierte just in dem Augenblick, in dem die SS-Einheit mit dem dröhnenden Marschtritt deutscher Militärstiefel diese Stelle passierte. Dreiunddreißig SS-Männer waren sofort tot, unglücklicherweise starben auch zwei italienische Zivilisten, die nicht hatten gewarnt werden können. Siebenundsechzig Menschen wurden verwundet.
Die Attentäter verschwanden unerkannt im Chaos nach der Explosion, dem Schreien der Verwundeten, den Alarm signalisierenden Trillerpfeifen, der Hilflosigkeit in den Augenblicken nach einer derartigen Tat.
Hitler und der Reichsführer-SS Himmler hatten getobt, als sie die Nachricht vom Attentat erhielten, und sofortige harte Vergeltung befohlen. Hitler forderte sogar, einen ganzen Stadtteil Roms in die Luft zu jagen, denn die Täter hatten nicht dingfest gemacht werden können und waren in der italienischen Hauptstadt untergetaucht. Somit stand die römische Zivilbevölkerung im Zentrum der geballten Wut der Nazis.
Was folgte, war eine massive Vergeltung durch die Deutschen. Der Chef des Sicherheitsdienstes und der Sicherheitspolizei in Rom, SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, der gleichzeitig als Polizeiattaché und Kriminalrat fungierte, ordnete in Absprache mit den militärischen Befehlshabern die sofortige Exekution von zehn Italienern für jeden getöteten Deutschen an und übernahm persönlich das Kommando der Operation.
Er war längst bekannt für seine unbarmherzige Härte und seine Freude an der Ausübung seiner Macht. So hatte er nach seiner Ernennung zum Polizeichef eine Art Routine entwickelt, für die er jeden Vormittag zu einem kleinen Häuschen im Garten der Gestapozentrale ging. In diesem romantisch in den Garten eingefügten Gebäude wurden Häftlinge verhört und gefoltert. Kappler gefiel sich darin, auf einem Stuhl sitzend die Verhöre interessiert zu verfolgen, sich an den Schreien der Malträtierten zu weiden und wie einst Caesar durch eine Handbewegung die Verhöre zu verschärfen oder abzumildern. So war es nur folgerichtig, dass Kappler die Vergeltungsmaßnahmen des Angriffs auf den Zug der SS- Ordnungspolizei umgehend in die Tat umsetzte.
Die makabre Aufrechnung von zehn für einen war von der Stadtkommandantur schon weit im Vorfeld irgendwelcher Attentate auf deutsche Einheiten oder Zivilpersonen per Plakatanschlag allgemein verkündet worden, den Partisanen mithin bekannt.
Nur einen Tag nach dem Anschlag wurden 335 Todgeweihte in der Via Rasella in mehreren LKW zu den außerhalb Roms gelegenen Tuffsteinhöhlen der Fosse Ardeatine transportiert. Auf ihrem Weg passierten die Fahrzeuge Trastevere, überquerten den Tiber und bogen kurz vor dem Erreichen der historischen Via Appica Antica nach rechts auf das Gelände mit den Zugängen zu den Höhlen ab. Die ersten Opfer der Vergeltung wurden nun in einer Fünfergruppe an das Ende eines Blindstollens geführt, wobei jedes der fünf Opfer von einem SS-Mann begleitet wurde. Fackelträger tauchten die makabre Szenerie in unheimlich flackerndes Licht. Am Ende des Blindstollens mussten die Gefangenen niederknien und wurden von einem Mitglied des Kommandos per Genickschuss direkt ins Kleinhirn getötet. Die folgenden Fünfergruppen wurden auf die gleiche Art und Weise behandelt. Mit auf dem Rücken zusammen gebundenen Händen wurden sie an den Eingang der Höhlen geleitet, mussten dort warten, bis sie an der Reihe waren, während sie die Angstschreie der Männer hörten, die vor ihnen exekutiert werden sollten. Sobald sie ins Halbdunkel geführt worden waren und die Augen sich an das schale Licht gewöhnt hatten, konnten sie die Leichenberge erkennen, die sich in der Zwischenzeit aufgetürmt hatten. Der Raum in den Höhlen war begrenzt, also erhielten die Delinquenten den Befehl, die aufgehäuften Leichen zu erklimmen und sich auf dem Haufen toter Körper ebenfalls niederzuknien, um den Genickschuss zu erhalten. Innerhalb weniger Stunden war auf diese Weise der Boden der Ardeatinischen Höhlen mit einem einen Meter hohen Berg von Leichen bedeckt.
Unter den Erschossenen befanden sich römische Juden, Generale und hohe Offiziere der italienischen Armee, andere Erschossene waren willkürlich auf der Straße festgenommen worden. Insgesamt wurden 335 Menschen von den Kommandos der Dienststelle Kappler hingerichtet. Kappler persönlich brachte einige der Opfer auf die beschriebene Weise per Genickschuss um.
Die SS hoffte, die Spuren dieses Verbrechens durch die Sprengung der Tuffsteinhöhlen verwischen zu können, daher sprengte nach Abschluss der Hinrichtungen ein SS-Kommando gegen Abend den Eingang zu den Höhlen. Doch die Kunde von der Gräueltat hatte sich längst wie ein Lauffeuer in Rom herumgesprochen.
Als die Fosse Ardeatine nach dem Abzug der Deutschen und dem Ende der Kampfhandlungen in der Region Rom geöffnet wurden, entdeckten die italienischen Partisanen die erschossenen Opfer der deutschen Willkür – 335 und nicht 330 wie damals im Zuge der Vergeltungsmaßnahmen gefordert.
Im Juli 1948 wurde Herbert Kappler mit fünf weiteren Angeklagten vor ein italienisches Militärgericht in Rom gestellt und wegen der Erschießung dieser fünf hingerichteten Geiseln zu lebenslanger Festungshaft in der Festung Gaeta verurteilt. In der Anklageschrift für den Prozess fand sich die Formulierung, Kappler fehle „der elementare Sinn für Menschlichkeit“. Das Urteil war endgültig und nicht anfechtbar.
Die Frage, warum die fünf „Überzähligen “ ebenfalls erschossen worden seien, kommentierte er im Prozess mit den Worten: „Wenn sie schon mal da waren …“
Seine Mitangeklagten aus dem Erschießungskommando wurden mit dem Hinweis auf Befehlsnotstand freigesprochen und konnten den Gerichtssaal als freie Männer verlassen.
Die italienische Regierung verschleppte tausende Ermittlungsverfahren gegen deutsche Kriegstäter, denn man hatte Sorge, dass die internationale Öffentlichkeit dadurch auch ein Auge auf die italienischen Kriegsverbrechen und ihre Akteure in Griechenland, Jugoslawien und Albanien werfen würde. Abgesehen davon gab es die klare Direktive der westlichen Alliierten, keine mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus ihren Besatzungszonen an Italien auszuliefern, ein Tribut an den schon entbrannten Ost-West-Konflikt.
Kappler aber wurde in den Jahren seiner Haft über Jahrzehnte zum politischen Symbol der deutschen Besatzungspolitik und des Terrors gegen die italienische Bevölkerung in der Zeit vom September 1943 bis zum Kriegsende.
Kapplers Flucht
15.08 1977 Bonn, Bundeskanzleramt früher Morgen
Im Bonner Bundeskanzleramt klingelte das Telefon des diensthabenden Staatssekretärs Riesinger.
„Ja, bitte?“
Seine Sekretärin Marlies Gust versuchte, ihren Chef zu dieser frühen Stunde möglichst unaufgeregt anzusprechen: „Herr Staatssekretär, es ist eine Anruferin am Telefon, die behauptet, dass heute Nacht der Gefangene Herbert Kappler aus einem italienischen Gefängnis entführt und nach Deutschland verbracht worden sei.“
Der Staatssekretär war sofort hellwach. „Frau Gust, stellen Sie das Gespräch durch!“
Bevor der Summton ihm die erfolgte Weiterleitung des Anrufs signalisierte, hatte er einen kurzen Augenblick Gelegenheit, seine Gedanken zu ordnen.
„Riesinger …“
Eine weibliche Stimme meldete sich. „Hier spricht Anneliese Kappler-Wenger. Mein Ehemann Herbert Kappler befindet sich in meiner Obhut. Er ist wieder in seiner deutschen Heimat!“
Riesinger glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.
„Wovon reden Sie?“
„Heute Nacht ist der letzte deutsche Kriegsgefangene aus italienischer Haft befreit und in seine Heimat zurückgeführt worden. Herbert Kappler ist wieder zu Hause!“ Das Pathos in der Stimme der Anruferin war nicht zu überhören.
Wer Riesinger in diesem Augenblick hätte sehen können, hätte die Synapsen förmlich greifen können, die sich in diesen Millisekunden im Hirn des Chefs des Bundeskanzleramtes bildeten. Nach außen hin blieb er jedoch gewohnt professionell.
„Wo befindet er sich?“
„Herr Staatssekretär“, reagierte sie sehr förmlich und unaufgeregt, „gehen Sie bitte davon aus, dass er sich an einem sicheren Ort befindet. Wir werden Ihnen in Kürze die notwendigen Informationen zukommen lassen.“ Die Anruferin hatte sich auf solche Fragen offensichtlich bestens vorbereitet.
Dennoch wollte Riesinger die Chance nicht ungenutzt lassen, nähere Auskünfte über den Aufenthaltsort Herbert Kapplers zu bekommen.
„Sie wissen“, sagte er zu Frau Kappler, „dass er sich in höchster Gefahr befindet, wenn nicht die erforderlichen Maßnahmen für seine Sicherheit getroffen werden. Es wird eine Welle der Empörung insbesondere in Italien geben. Wir müssen damit rechnen, dass sich Mordkommandos auf den Weg nach Deutschland machen werden.“
Man konnte spüren, wie sich die Anruferin entspannte.
„Wir sind auf alles vorbereitet. Wir wiederholen: Er ist in einem sicheren Versteck. Auf Wiederhören.“
Anneliese Kappler-Wenger beendete das Gespräch. Staatssekretär Riesinger betrachtete nachdenklich das Telefon. Das „Wir“ hatte er wohl vernommen.
Seine Sekretärin hatte in der Zwischenzeit den diensthabenden Beamten des Lagezentrums des Kanzleramtes zum Staatssekretär beordert. Alles lief nach den vielfach erprobten und geübten Ablaufplänen für den Krisenfall ab, und so war es keine Überraschung für Riesinger, als wenige Sekunden nach der Beendigung seines Gespräches mit Frau Kappler der an diesem Morgen im Krisenstab zuständige Ministerialdirektor Bernd Schütte in sein Büro trat.
Riesinger stand aus seinem eleganten ledernen Schreibtischsessel auf, ging einige Schritte auf seinen Mitarbeiter zu und beide begrüßten sich mit Handschlag.
„Guten Morgen, Herr Schütte, bitte informieren Sie trotz der frühen Stunde umgehend die Diensthabenden in den zuständigen Dienststellen über die neue Lage. Es müssen kurzfristig Maßnahmen zum Schutz italienischer Objekte im Lande ergriffen werden. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich wünsche, immer auf dem aktuellen Informationsstand zu sein.“
Schütte nickte und wollte schon das Büro des Staatssekretärs verlassen, als dieser noch eine Selbstverständlichkeit einforderte: „Das Bundeskriminalamt soll unverzüglich den Aufenthaltsort feststellen!“
August 1977 Soltau
Wenn jemand die Befreiung Herbert Kapplers aus italienischer Kriegsgefangenschaft forcierte, dann war es seine Ehefrau Anneliese Kappler-Wenger. Seit Anfang der Sechzigerjahre versuchten die einflussreichen und bestens vernetzten Verbände ehemaliger Soldaten mit ihren mehr als zwei Millionen Mitgliedern Druck auf die politischen Entscheidungsträger auszuüben. Man wollte auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen die Freilassung des Gefangenen erzwingen.
Natürlich hatten die in die Jahre gekommenen Haudegen von SS und Wehrmacht längst erwogen, Herbert Kappler in einer raffinierten und gegebenenfalls gewaltsamen Befreiungsaktion in die Heimat zurückzuholen. Doch der Arrestort, die Festung Gaeta, erwies sich auch in den kühnsten Planungen als unangreifbar. In der Konsequenz setzte man daher auf die Karte des Humanismus und des Mitleids. Dabei ließ man natürlich außer Acht, dass Herbert Kappler in seiner aktiven Zeit ein eiskalter und mitleidsloser Vollstrecker des nationalsozialistischen Terrors in Italien und damit besonders verhasst gewesen war.
Die Kampagne für Kappler wurde in wesentlichen Teilen von der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Soldaten der ehemaligen Waffen-SS“ kurz HIAG getragen. Zwischen der HIAG und neonazistischen Gruppen in Deutschland und Italien bestanden kurze Verbindungswege, die jederzeit für eine Befreiungsaktion genutzt werden konnten.
Die wirksamste Waffe innerhalb der Pläne der Kampagne war jedoch seit Anfang der Sechzigerjahre die ehemalige Rot-Kreuz-Schwester Anneliese Wenger, die ihren ersten Kontakt zu Kappler mit einem Weihnachtspäckchen und einem Brief herstellte.
In den folgenden Jahren wurden die Kontakte zwischen der resoluten Dame und dem Gefangenen immer enger und mündeten im Hafen der Ehe, den die damals Siebenundvierzigjährige und der siebzehn Jahre ältere Kappler elf Jahre nach dem ersten Kontakt Anfang der Siebzigerjahre ansteuerten.
Ab diesem Zeitpunkt veränderte sich die äußere Erscheinung der Soltauerin. Sie kleidete sich häufig in Schwarz, aus Protest gegen die andauernde Haft ihres Ehemannes und die ihrer Meinung nach heuchlerische Unterstützung durch die Bonner Politiker. Schwarz trug sie auch bei ihren monatlichen Besuchen in Gaeta, die laut Aussagen der Ehefrau durch anonyme Spender ermöglicht wurden.
Am 10. Dezember 1975 trat sie unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und großem Medieninteresse auf dem Bonner Münsterplatz in einen unbefristeten Hungerstreik. Der Höhepunkt dieser spektakulären Aktion war ein Auftritt vor dem Bonner Bundeshaus, wo sie mit einem selbst gemalten Plakat, das sie sich um den Hals gehängt hatte, daran erinnerte, dass Kappler auch das diesjährige Weihnachten in Gefangenschaft in der Festung Gaeta verbringen werde – wie immer seit seiner Inhaftierung im Jahr 1947.
Im darauf folgenden Februar diagnostizierten die italienischen Militärärzte bei Herbert Kappler eine Magen- und Darmkrebserkrankung. Anneliese Kappler forderte daraufhin Unterstützung über das Netzwerk der alten Kameraden ein, um eine gute medizinische Betreuung ihres Gatten zu erreichen. Mit Erfolg. Ihre Heilpraktikerpraxis in Soltau war von dieser Zeit an bis zu Kapplers Flucht nur an zwei Tagen pro Woche geöffnet, die restliche Zeit verbracht die Gattin im Militärkrankenhaus in Rom, in das Kappler verlegt worden war.
Dass im November sechsundsiebzig auf massiven Druck der italienischen Öffentlichkeit hin von der italienischen Justiz die Entscheidung getroffen wurde, Kappler nicht freizulassen, war für die liebende Ehefrau der letzte Impuls, nun selbst zur Tat zu schreiten, denn die Alternative zur Befreiung lautete: Der Rücktransport nach Deutschland würde im Sarg erfolgen.
Über die Unterstützer wurden die finanziellen Mittel für die Befreiungsaktion kurzfristig bereitgestellt und junge Aktivisten in Deutschland und Italien waren schnell gefunden. So war der Weg geebnet, um den letzten deutschen Kriegsgefangenen bei nächster Gelegenheit aus dem schlecht bewachten Krankenhaus zu befreien. Der ein oder andere Geldschein für die verbliebenen Wachen sollte deren Motivation, im richtigen Moment wegzuschauen, erhöhen.
Man einigte sich auf die Tage rund um den wichtigen italienischen Feiertag Ferragosta, Mariä Himmelfahrt. Ein Feiertag, an dem ganz Italien im Tiefschlaf sein würde.
15.08.1977 Bonn, Bundeskanzleramt, früher Morgen
Die Fernschreiber im Lagezentrum des Bundeskanzleramtes spuckten laut ratternd unermüdlich die neuesten Meldungen aus. Ministerialdirektor Bernd Schütte sichtete die eingehenden Informationen, um sich nach einer Stunde wieder einmal auf den Weg ins Büro des Staatssekretärs zu machen. Er überreichte einen kleinen Stapel mit Fernschreiben, deren Inhalt er mit den Worten zusammenfasste: „Es liegt ein Hinweis des Bundesverfassungsschutzes aus dem Jahre 1976 vor, der besagt, dass ein befreundeter italienischer Dienst auf die Möglichkeit hingewiesen habe, dass es bei der Freilassung von Herbert Kappler ähnlich wie in Italien auch in der Bundesrepublik zu gewalttätigen Demonstrationen kommen könne.
Aktuell bittet der Bundesverfassungsschutz ebenso wie das Bundeskriminalamt darum, die Schutzmaßnahmen für italienische Objekte wie diplomatische Vertretungen, Konsulate und sonstige Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland bis auf Weiteres zu verstärken.“
Riesinger nickte nur kurz und ordnete, auf eine gegenüber seinem Schreibtisch angebrachte Wanduhr blickend, an: „Ich brauche möglichst klare Informationen über den Status quo in der Angelegenheit Kappler. In den nächsten Stunden wird es möglicherweise zu erheblichen Verstimmungen zwischen der Republik Italien und der Bundesrepublik Deutschland kommen. Der Bundeskanzler muss spätestens in der morgendlichen Lage in seinem Urlaubsdomizil am Brahmsee über die aktuelle Situation in Kenntnis gesetzt werden …“ Er blickte noch einmal auf die Uhr. „In sechzig Minuten treffen wir uns zu einer Besprechung im Lagezentrum.“
Die anberaumte Sitzung des Krisenstabes war bereits nach zwanzig Minuten beendet.
„Stimmen Sie sich mit den Landesbehörden“, Riesinger deutete auf den Vertreter des nordrhein-westfälischen Innenministeriums, „namentlich mit dem Landeskriminalamt ab und klären Sie die Vorgänge, die von der Anruferin beschrieben worden sind. Wenn es tatsächlich so ist, wie sie sagt, stellen Sie fest, wo sich Kappler befindet, und nehmen Sie ihn aus Gründen der Sicherheit in Polizeigewahrsam. Für etwaige folgende gerichtliche Auseinandersetzungen nehmen wir als Gerichtsstand den Ergreifungsort.“
Die Anwesenden nickten und nach einem kurzen Austausch brachte Riesinger die wesentlichen Aspekte auf den Punkt: „Das Kanzleramt geht davon aus, dass selbst bei einer Festsetzung Kapplers trotz des zu erwartenden diplomatischen Protestes der italienischen Regierung und dem möglicherweise folgenden Ärger keine Auslieferung Kapplers an Italien erfolgen wird.“ Er hob bedauernd die Schultern. „Ein Ermittlungsverfahren ist dennoch formal einzuleiten. Wir brauchen dringend Informationen über den Gesundheitszustand des Gesuchten. Es ist kurzfristig abzuklären, ob gegebenenfalls eine biologische Erledigung des Verfahrens erwartet werden kann, und wenn ja, voraussichtlich wann. Diese Informationen können die weitere Vorgehensweise maßgeblich beeinflussen.“
„Frau Kappler-Wenger hat schon vor einiger Zeit Rechtsanwalt Aschenbauer als juristischen Vertreter mit der Wahrnehmung der Interessen ihres Mannes beauftragt“, merkte der Vertreter aus dem nordrhein-westfälischen Innenministerium an.
„Ich hatte bereits davon gehört“, stellte Riesinger fest. „Jetzt haben wir also die versammelten alten und neuen Kameraden der ‚Stillen Hilfe‘ mit im Boot.“
Nach Rundfunk- und Fernsehmeldungen über die erfolgreiche Flucht liefen erste Informationen über den Verbleib Kapplers ein. Die Medien verorteten den Gesuchten im Wohnort seiner Ehefrau Anneliese im niedersächsischen Soltau. Darauf ging sofort ein Fernschreiben an das zuständige niedersächsische Innenministerium und damit an die Polizeibehörde in Soltau, den Aufenthaltsort Kapplers festzustellen.
Die kurzfristig eingeleiteten Ermittlungen bestätigten den Aufenthalt. Die Beamten in Soltau hatten einfach an der Wohnungstür der Kapplers geklingelt und die Hausherrin hatte bereitwillig Auskunft gegeben.
Der Kommandeur der Schutzpolizei in Lüneburg wurde unverzüglich darüber in Kenntnis gesetzt, woraufhin dieser wiederum sofortige Objekt- und Personenschutzmaßnahmen anordnete, die von Polizeikräften aus Soltau durchgeführt werden sollten.
16.08.1977 Wiesbaden, Bundeskriminalamt morgens
Der Präsident des Bundeskriminalamts, Dr. Horst Herold, teilte Ministerialrat Schütte im Bundeskanzleramt fernmündlich mit, dass eine Unterredung zwischen ihm und dem Generalstaatsanwalt stattgefunden habe, dessen Inhalt das Fahndungsersuchen der italienischen Behörden nach Herbert Kappler gewesen sei.
Es habe eine Kontaktaufnahme mit Interpol per Telex gegeben, in dem das BKA mitgeteilt habe, dass der Aufenthaltsort des Gesuchten nunmehr feststehe und die zuständige Staatsanwaltschaft prüfe, welche Maßnahmen zu ergreifen seien.
Die Staatsanwaltschaft wünsche wegen verschiedener Drohungen keine Bekanntgabe des Aufenthaltsortes.
16.08.1977 Soltau, Wilhelmstraße, vormittags
Es klingelte an der Tür der Wohnung der Eheleute Kappler. Die Ehefrau schaute durch den Türspion. Im Hausflur stand ein stämmiger, etwa fünfundfünfzigjähriger Herr im dunkelgrauen, offensichtlich teuren Anzug, die dunklen Haare streng gescheitelt.
„Guten Morgen, gnädige Frau. Mein Name ist Aschenbauer, Dr. Rudolf Aschenbauer. Ich soll Ihnen und Ihrem Mann die herzlichsten Grüße von den Kameraden der ‚Stillen Hilfe‘ überbringen. Herzlichen Glückwunsch zur geglückten Aktion in Italien. Darf ich eintreten?“
„Ja natürlich, selbstverständlich.“
Aschenbauer deutete eine leichte Verbeugung samt Handkuss an und betrat hinter Frau Kappler, der er galant den Vortritt gelassen hatte, die Wohnung der Eheleute. In dem geräumigen Esszimmer traf er auf Herbert Kappler, der es sich in einem Sessel mit Armlehne bequem gemacht hatte.
Aschenbauer schlug zur Begrüßung die Hacken zusammen.
„Herzlich willkommen zu Hause, Obersturmbannführer! Ich begrüße Sie herzlich im Namen aller Kameraden und Kameradinnen der Stillen Hilfe, deren Vorsitzender zu sein ich die große Ehre habe.“
Kappler sah erstaunt und wohlgefällig auf.
„Dann waren Sie es wohl, der über all die Jahre für die Unterstützung für mich und meine Ehefrau verantwortlich war? Großen, großen Dank und allergrößten Respekt dafür, Kamerad Aschenbauer.“
„Nein, danken Sie nicht mir, danken Sie dem Netzwerk der vielen, vielen Kameraden. Gerade Ihr Schicksal war es, das uns immer wieder gezeigt hat, dass unser Kampf noch lange nicht zu Ende ist. Allergrößten Respekt für Sie, Obersturmbannführer. Diese langen Jahre in einem alliierten Gefängnis …“
„Aber nehmen Sie doch Platz, verehrter Herr Dr. Aschenbauer“, mischte sich nun Frau Kappler in das Gespräch ein, „darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, Tee, Cognac?“
„Oh, danke. Wenn es keine Mühe macht, dann bitte Kaffee und zur Feier des Tages einen Cognac.“
„Herbert, und du? Was kann ich dir bringen? Du weißt: keinen Alkohol.“
Kappler verdrehte leicht die Augen. „So sind sie, die Frauen, gönnen einem nicht mal den kleinsten Spaß.“
„Ach Herbert, ich will doch, dass du so lange wie möglich bei mir bleibst, als lebender Zeuge für das unglaubliche Unrecht, das dem deutschen Soldaten und dem deutschen Volk nach dem Kriegsende widerfahren ist.“
„So ist es, Obersturmbannführer“, ließ sich Aschenbauer vernehmen, „ wir brauchen Sie dringend als Beweis für deutsche Standfestigkeit und Widerstandskraft auch in schwierigsten Lebenssituationen. Wir brauchen Sie als lebenden Beweis – ich betone noch einmal lebend – für den Umgang der alliierten Siegerjustiz mit dem tapferen deutschen Soldaten insbesondere mit den Kameraden von der SS, die seit einigen Jahren nach der Machtübernahme der Sozen Brandt und Schmidt doch eine Menge durchmachen mussten und noch müssen.“
„Ich lasse euch jetzt ein wenig allein. Es gibt sicherlich viel zu besprechen, was nicht unbedingt für die Ohren einer Frau bestimmt ist?“
Anneliese Kappler-Wenger verließ mit einem verständnisvollen Lächeln den Raum und ließ ihren Ehemann und Aschenbauer dicht nebeneinandersitzend zurück.
„Richten Sie meinen ausdrücklichen Dank auch an die jungen Kameraden, die sich in ihrer Umsicht und ihrem Mut in keiner Weise von unseren Kameraden vom SD und der Waffen-SS unterscheiden“, übernahm Kappler wieder das Wort. „Besser hätten wir diese Befreiung damals auch nicht durchführen können. Natürlich bin ich Ihnen, Kamerad Aschenbauer, sozusagen als Kopf der Aktion besonders dankbar. Es ist einfach unbeschreiblich, wie Ihre Unterstützung vor allem meiner Ehefrau in den harten Tagen der letzten Monate und Jahre den Rücken gestärkt hat.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.
„Danken Sie der Organisation“, erwiderte Aschenbauer, „wir haben es rechtzeitig geschafft, auch junge Burschen, die die Kameradschaft der SS nicht mehr selbst erfahren durften, an uns zu binden und sozusagen als Truppe zur besonderen Verwendung in der Hinterhand zu haben.“ Er beugte sich nach vorn. „Jetzt geht es aber erst einmal darum, Obersturmbannführer, ihren Aufenthalt in Soltau oder anderswo in Deutschland so sicher wie möglich zu machen. Bitte legitimieren Sie mich noch einmal persönlich als Ihren Rechtsbeistand, damit ich gegenüber den staatlichen Stellen alles Notwendige in die Wege leiten kann.“
Aschenbauer war für derartige Aufträge bestens präpariert, er steckte tief im Thema. Bereits 1947 hatte seine Karriere als Rechtsvertreter des Angeklagten Otto Ohlendorf im Einsatzgruppenprozess begonnen, allerdings hatte er nicht verhindern können, dass sein Mandant 1951 hingerichtet wurde. Im selben Jahr war er maßgeblich an der Gründung des Vereins „Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte“ beteiligt gewesen.
Wo immer in der Bundesrepublik Deutschland spektakuläre juristische Aufarbeitungen der Naziverbrechen erfolgten – Aschenbauer war dabei und zog hinter den Kulissen die Fäden wie eine Spinne in ihrem Netz.
Die Stadt Soltau zeigte in den Siebzigerjahren eine geradezu klassische Kleinstadtidylle in der norddeutschen Provinz. Der neutrale Beobachter hätte sie aufgrund seiner Beobachtungen zur Gesellschaft als stellvertretend für Dutzende ähnlicher Kommunen bezeichnen können. Nach einem kleinen Kratzen an der Oberfläche wären die klassischen Verfilzungen in der Kommunalpolitik bis hin zur Klüngelwirtschaft mit ihren Machtstrukturen sichtbar geworden. Die Bevölkerung war noch stramm konservativ und der Stammtisch der HIAG, der Hilfsgemeinschaft der ehemaligen SS-Angehörigen, bestens besucht. Und es gab eine weitere Besonderheit: ein Ableger der rechtsterroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann trieb in der Gegend sein Unwesen und200 auch der Chef des Ganzen, Karl-Heinz Hoffmann, wurde des Öfteren vor Ort gesichtet.
Die Nachricht von der Flucht des ehemaligen SD-Chefs Roms aus italienischer Haft schlug in der niedersächsischen Kleinstadt wie eine Bombe ein.
Anneliese Kappler-Wenger betrieb dort in der Tradition ihrer Familie eine Praxis als Heilpraktikerin und war eine angesehene Bürgerin der Stadt.
„Gut, dass sie das gemacht hat!“, war die einhellige Meinung der überwiegenden Mehrheit der Einwohner Soltaus. Wie ein Lauffeuer hatte sich im Ort die Kunde verbreitet, dass Frau Kappler ihren Mann aus italienischer Haft befreit habe. Gleichzeitig fing die Gerüchteküche an zu brodeln. Die Bewunderung für diese mutige Frau wurde grenzenlos, als erste Berichte laut wurden, sie habe ihren Mann an Bettlaken befestigt abgeseilt. Absolute Insider waren sich sicher, dass er Italien in Priesterkleidung verlassen habe, andere behaupteten später, sie habe ihn in einem Koffer aus dem Gefängnis getragen, bedingt durch seine Krebserkrankung habe er ohnehin nur noch fünfundvierzig Kilo gewogen.
Aber man machte sich auch über die unfähigen italienischen Behörden lustig, insbesondere als weitere angebliche Detailinformationen über die Flucht nach Soltau drangen. Ein Schild mit der Aufschrift: „Bitte nicht vor 10 h stören!“ an der Tür zum Krankenzimmer Kapplers habe angeblich verhindert, dass die Flucht vorzeitig entdeckt werden würde und sichergestellt, dass Frau Kappler mit ihrem Herbert im Koffer ungestört das Weite habe suchen können.
Braves, einfältiges, italienisches Wachpersonal! Augenzwinkernd war auch von Bestechung die Rede.
Allen Erzählungen gemein war die Bewunderung für die unerschrockene Anneliese Kappler-Wenger, die nach langen Jahren der Bittstellerei für die Freilassung ihres Mannes nun selbst zur Tat geschritten sei. Endlich sei Schluss mit der chaotischen Situation rund um Herbert Kappler. Die Hin- und Herschieberei der Kompetenzen innerhalb der italienischen Behörden sei für Deutsche doch ein entwürdigender Vorgang. Es zeichnete sich der Konsens ab, Herbert Kappler als Neubürger anzusehen und ihn in der städtischen Gemeinschaft alsbald herzlich willkommen zu heißen.
Die Anteilnahme der Bevölkerung war so überwältigend, dass Anneliese Kappler den örtlichen Blumenladen anwies, keinerlei Bestellungen für Blumensträuße und -gebinde mehr anzunehmen. Post- und Fleurop-Boten gaben sich die Klinke in die Hand. Das Haus in der Wilhelmstraße quoll über.
Der Bürgermeister der Stadt, Jochen Rothardt, fasste die Stimmung in der Stadt folgendermaßen zusammen: „Man hat hier in Soltau Frau Kapplers Engagement für ihren Mann schon immer bewundert. Und jetzt bekennen sich die Soltauer erst recht zu dieser Frau und ihrem Husarenstück. Ihr mutige Tat war erstklassig durchdacht, auch in den juristischen Konsequenzen.“
Zugleich wurde die Gerüchteküche von den alten Kameraden der „Hilfsgemeinschaft“ befeuert, die mit stolz geschwellter Brust nebulös auf die Arbeit der berüchtigten SS-Untergrundorganisation „ODESSA“ hinwiesen, die mit ähnlichen Aktionen auch die Massenmörder Eichmann und Mengele nach Südamerika geschleust habe. Es ging sogar die Mär, Anneliese Kappler habe seit 1945 für die „ODESSA“ gearbeitet.
Wohlwollend wurde zur Kenntnis genommen, dass auch Teile der im national-konservativen Soltau nicht wohl gelittenen Großstadtpresse Verständnis für diese Lösung des Problems Kappler formuliert hatte. Man vermutete das Ehepaar in der Soltauer Wohnung der Ehefrau. Gleichzeitig war man jedoch wegen der zu erwartenden heftigen Reaktionen aus dem In- und insbesondere aus dem italienischen Ausland sehr um Ruhe und Ordnung in der Stadt besorgt, Schlagworte wie „Rote Brigaden“ und „Baader-Meinhof-Bande“ fielen.
Gerüchte machten die Runde, dass sich Terrorkommandos schon auf dem Weg nach Deutschland befänden. Für das folgende Wochenende hätten sich hunderte „Chaoten“ zur Demonstration im ansonsten friedlichen Soltau angesagt.
Um die Sicherheit der Eheleute Kappler zu gewährleisten, wurde der in Soltau beschäftigte Kriminalhauptkommissar Breit zum vorläufigen Gesamteinsatzleiter für den Personen- und Objektschutz ernannt. Morddrohungen gegen Kappler gingen ein.
Die Staatsanwaltschaft Lüneburg stellte zur selben Zeit in einer Pressemitteilung des Leitenden Oberstaatsanwalts fest, dass keine Strafverfolgung Kapplers in Deutschland stattfinden könne, da keine Akten gegen ihn vorlägen. Eine Anforderung der Akten werde über das zuständige Bundesministerium der Justiz erfolgen. Allerdings müsse man davon ausgehen, dass auch bei nochmaliger Verurteilung Kapplers in Deutschland eine Anrechnung der in Italien verbüßten Gefängniszeiten erfolgen müsse. Angesichts dreißigjähriger Gefängnis- und Festungshaft sei eine nochmalige Untersuchungshaft eine unbillige Härte.
Möglicherweise habe sich die Ehefrau Kappler-Wenger bei der Durchführung der Fluchtaktion strafbar gemacht, doch dies sei italienisches Rechtsgut, der Straf- und Vollstreckungsanspruch obliege der Republik Italien.
Zwischen zwanzig und teilweise bis zu vierzig Journalisten waren zu dieser Zeit in Soltau, sie hatten sich im ersten Haus am Platze eingemietet und verbreiteten eine unglaubliche Hektik in dem ansonsten so beschaulichen Ort. Vor allem die Italiener unter ihnen waren nicht wohlgelitten. Nach Beschwerden von Touristen habe man sie kurzerhand hinauswerfen müssen, erklärte der Eigentümer des Hotels. Überhaupt waren die Arbeitsbedingungen der überregionalen Presse alles andere als optimal. Die eine Amtsleitung des Hotels war ständig besetzt und wer auf die Idee kam, vom Postamt aus die auswärtigen Redaktionen kontaktieren zu wollen, musste sich auf ellenlange Wartezeiten vor den Telefonzellen einstellen.
Alle waren auf der Jagd nach Infos über Herbert Kappler. Hinzu kamen mehrere Aufnahmeteams deutscher und ausländischer Fernsehanstalten, die natürlich alle versuchten, an sendefähige Bilder und entsprechendes Nachrichtenmaterial zu kommen. Dieses Bestreben trieb seltsame Blüten. So meinte man, im Schaufenster der örtlichen Buchhandlung ein Foto Herbert Kapplers entdeckt zu haben – tatsächlich zeigte es aber den Schriftsteller Hermann Hesse.
Die Geheimhaltung des Aufenthaltsortes Kapplers in der Wohnung seiner Ehefrau war unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Die Vögel pfiffen es buchstäblich von den Dächern und so drehte sich das polizeiliche Interesse an Kappler um 180 Grad. Hatte man in den Stunden nach seiner Flucht noch nach ihm gefahndet, so war innerhalb kürzester Zeit der Schutz seiner Person und seiner Umgebung das Ziel polizeilicher Tätigkeit geworden. Zur besonderen Absicherung des derart im öffentlichen Interesse stehenden Flüchtigen wurde das Sondereinsatzkommando (SEK) aus Hannover angefordert. Gemeinsam mit anderen ortskundigen Beamten und dem Ehepaar Kappler plante Einsatzleiter Breit die Umquartierung in ein sichereres und besser zu schützendes Objekt in unmittelbarer Nähe zu Soltau.
Die Wahl fiel auf die Pockenisolierstation in Ebstorf. Hier wurde der erste Unterschlupf Herbert Kapplers eingerichtet.
Die zentrale Quarantäneeinrichtung des Landes Niedersachsen, ausgelegt für die Aufnahme von bis zu siebzig Pockeninfizierten, lag in einem gut abzuschirmenden Areal in der Nähe eines Klostergutes bei Uelzen. Die Einrichtung war für die sofortige Aufnahme von Erkrankten vorbereitet, es gab Isoliersysteme für die Trennung von Patienten und Personal, da man auf die Isolierung hochinfektiöser, als Kampfstoff eingesetzter bakteriologischer Erreger eingerichtet war. Alles lief hoch effizient organisiert. Die Alarmpläne für Infektionen und Pockenerkrankungen stellten sicher, dass kurze Informationswege zu anderen Behörden und Polizeidienststellen bestanden.
Polizeihauptkommissar Breit vom Polizeiabschnitt Soltau-Fallingbostel stand neben dem Ehepaar Kappler in einem der Isolierzimmer.
„Kein Mensch wird Ihren Mann hier in dieser Einrichtung vermuten“, sagte er an Frau Kappler gewandt. „Dieser Ort ist optimal für den Schutz der persönlichen Unversehrtheit Ihres Mannes und zum ersten Krafttanken nach den anstrengenden Stunden geeignet.“
Anneliese Kappler-Wenger war wohl zu erschöpft, um noch großen Widerstand gegen diese Art der Unterbringung zu leisten.
„Es ist ja schon eine Zumutung, ich will meinen Mann zu Hause haben. Er hat dreißig Jahre lang unschuldig für sein Vaterland in Quarantäne gesessen.“ Sie hielt ihren Kopf müde durch die rechte Hand gestützt, mit drei Fingern ihre Stirn massierend. „Ich kann nicht mehr. Herbert, sag du doch auch einmal was.“
„Ach Liebes, die Beamten werden schon wissen, wie sie im ersten Ansturm der Itaker und der Journaille agieren müssen. Die kennen die örtlichen Gegebenheiten.“ Er streichelte seiner Frau über den Kopf. „Beruhige dich, die Kameraden werden uns auch hier nicht im Stich lassen.“
Polizeihauptkommissar Breit sprach ebenfalls auf die ermüdete Ehefrau ein: „Liebe Frau Kappler, wir wollen doch den grandiosen Erfolg Ihrer Unternehmung nicht in Gefahr bringen!“ Er versuchte, ihr beruhigend über die Schulter zu streichen. „Zunächst müssen wir den ersten zu erwartenden Proteststurm und die Attacken auf Leib und Leben Ihres Mannes abwarten. In Soltau können wir für seine und Ihre Sicherheit nicht garantieren. Hier aber in Ebstorf haben wir die nötige Abgeschiedenheit und Ruhe, um die Schreihälse in aller Gelassenheit und durch den polizeilichen Schutz ins Leere laufen zu lassen. Alle vermuten Sie und Ihren Ehemann schließlich in Soltau.“
Anneliese Kappler-Wenger konnte sich diesen Argumenten nicht länger widersetzen. Sie wandte sich an den Polizeibeamten: „Ich wäre Ihnen und Ihren Kollegen sehr verbunden, wenn Sie uns nun allein lassen würden. Trotzdem vielen Dank für alles.“
Die aus Sicht der politischen Entscheidungsträger und der Polizeibehörden optimalen Bedingungen sollten allerdings nur kurze Zeit von Bestand sein. Die Tarnung hielt nicht einmal vierundzwanzig Stunden, dann war sie durch Indiskretionen des Personals der Pockenstation aufgeflogen. Die Kapplers wurden zurück nach Soltau verbracht.
Die Verlegung erfolgte in der Nacht zum 18. August nach einem vorab exakt erarbeiteten Durchführungsplan und wurde weder von Journalisten noch von Bürgern erkannt.
18.08.1977 Backnang, früher Abend
In der Dienststelle der Polizei Backnang klingelte das Telefon.
Der diensthabende Beamte meldete sich.
„Polizei Backnang.“
„Guten Abend. Hier spricht Elfriede Behm, die Ehefrau des Schmuckgroßhändlers Helmut Behm. Mein Schwager aus Gütersloh hat mir mitgeteilt, dass sich im Augenblick italienische Terrorkommandos in Deutschland befinden, die Rache für die Flucht von Herbert Kappler nehmen wollen.“
„Wie kann Ihnen die Polizei Backnang hier weiterhelfen?“
„Meine Familie ist eng mit dem Ehepaar Kappler befreundet und ist in die Kappler-Flucht direkt eingebunden, mein Mann befindet sich im Augenblick in Niedersachsen, in Soltau, ich bin allein zu Hause und verlange polizeilichen Schutz. Ich habe Angst um meine Familie.“
„Bitte haben Sie einen Moment Geduld, wir müssen erst Rücksprache mit unserer vorgesetzten Behörde halten, wir sehen aber kein Problem darin, unsere Beamten im Außendienst auf Ihren erhöhten Schutzbedarf hinzuweisen und die Kontrollgänge im Umfeld Ihres Wohnhauses zu verstärken. Wir melden uns wieder bei Ihnen.“
„Ich bitte Sie zu berücksichtigen, dass ein Fahrzeug eines unserer Besucher schon vor knapp einem Jahr Ziel eines Anschlages mit Feuerwerkskörpern gewesen ist und auch unser Briefkasten Ziel von Attacken war.“
„Ja, Frau Behm, diese Vorgänge aus dem letzten Jahr sind uns natürlich bekannt. Wir haben erhöhten Eilbedarf für die Entscheidung nach verstärktem Schutz für Ihre Familie angezeigt. Gehen Sie bitte davon aus, dass alles in Ihrem Sinne geregelt wird. Vorerst sind unsere örtlichen Beamten angewiesen, im Sinne Ihrer Sicherheit zu handeln.“
Das Wohnhaus der Behms war ohnehin durch eine optische und eine akustische Alarmanlage gesichert, zwei Wachhunde sorgten für einen zusätzlichen Schutz gegen Eindringlinge. Der eigentliche Grund für den festungsartigen Ausbau des Wohnhauses im Schwäbischen war ein großes Schmucklager, das der Großhändler Behm hier für sein Unternehmen unterhielt.
Nach der gelungenen Flucht Kapplers war die fünfzehnjährige Tochter der Behms sofort aus der Schule genommen und bei einem befreundeten Ehepaar in Stuttgart untergebracht worden. Eine in der Familie aufgenommene Austauschschülerin aus Großbritannien, die gar nicht wusste, wie ihr geschah, wurde umgehend in ein Flugzeug gesetzt und nach Hause geschickt.
Nur eine Woche zuvor, am 11. und 12. August 1977, waren die Behms in Italien gewesen, angeblich um Geschäftsfreunde zu besuchen. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland hatte sich Behm, entgegen seiner ursprünglichen Planung, nur drei bis vier Tage zur Unterstützung von Kappler und seiner Ehefrau in Soltau zu bleiben, entschlossen, aufgrund der nicht überschaubaren Sicherheitslage in Backnang seinen Wohnort auf unbestimmte Zeit nicht aufzusuchen.
Er berichtete seiner Ehefrau telefonisch von ständigen Drohanrufen in Soltau, betonte aber den optimalen Schutz der Soltauer Villa durch Sicherheitskräfte. Aufgrund seiner langjährigen Unterstützung für Anneliese Kappler-Wenger und seinen ehemaligen Vorgesetzten bei der Gestapo in Rom sah er sich als gefährdete Person. Er begrüßte es daher außerordentlich, dass die Backnanger Polizei sich dazu entschlossen hatte, einen Beamten mit Funkgerät im Hause Behm unterzubringen.
Geradezu erbost reagierte er allerdings, als er von seinem Studienkollegen Mecklinger in einem persönlichen Gespräch erfahren musste, dass der zuständige Oberstaatsanwalt in Lüneburg seinen, Behms Namen, an die Presse weitergegeben habe, in diesem Fall an die Illustrierte „Stern“. Dazu habe er bemerkt: „Der weiß alles“. Daraufhin schlich sich tatsächlich ein „Stern“-Reporter mit dem Hinweis auf die Oberstaatsanwaltschaft Lüneburg unter falschem Namen in das Haus Kapplers ein.
Mecklinger, dessen Fahrzeug damals Ziel des Anschlages mit Feuerwerkskörpern vor dem Hause Behms gewesen war – er war zu dieser Zeit Berichterstatter der „Bild-Zeitung“ im Baader-Meinhof-Prozess gewesen –, reagierte erleichtert auf die Feststellung Behms, die Sicherheitslage in Backnang sei überschaubar und sicher.
„Gefahr droht allenfalls durch die vielen italienischen Gastarbeiter!“